|
"The
Baltic Times" ist dem Namen einer in den Baltischen
Ländern erscheinenden, englischsprachigen Wochenzeitung
entlehnt. Die von Tihomir Milovac und Branka Stipancic (MSU / Museum
für Zeitgenössische Kunst Zagreb) kuratierte
Ausstellung umfasst Arbeiten von KünstlerInnen aus den
Baltischen Ländern, die während der letzten sechs
Jahre entstanden sind. Die Innsbrucker Zusammenstellung von "The Baltic
Times" wurde gegenüber der Zagreber Ausstellung (Mai/Juni
2001) etwas abgeändert. Einige kürzlich entstandene
Arbeiten wurden dazu genommen, einige, wegen ihrer Dimensionen mit den
Räumen der Galerie nicht zu vereinbarende Arbeiten, wurden
weggelassen. Ilmars Blumbergs/ Viesturs Kairišs und Laila
Pakalnina wurden für Innsbruck zusätzlich eingeladen.
In den Jahren nach 1989
entwickelte sich in den Baltischen Ländern ein radikaler
Wechsel innerhalb der künstlerischen Positionen und dem
allgemeinen Verständnis von Kunst. Es entstand eine aktive
junge Kunstszene, die künstlerische Konzepte und
Ausdrucksformen aus dem Westen reflektiert, jedoch ganz
eigenständige Formulierungen entwickelt hat. "Nach der
Tyrannei der erzwungenen Privatheit" (Helena Demakova) richtete sich
das Interesse nach außen, auf alle Bereiche des
öffentlichen Lebens, wobei ganz neue und differenzierte
Spannungen und Konflikte, Ängste und Erwartungshaltungen zu
Tage traten.
Die Situation während des Kommunismus war nicht für
alle Staaten und Regionen gleich.
So entstanden auch sehr unterschiedliche künstlerische
Positionen im Postkommunismus, da in den einzelnen Ländern zu
unterschiedlichen Zeitpunkten der Zugang zu westlicher Kunst
möglich war. "Zweifellos haben sich grundlegende
paradigmatische Veränderungen in der osteuropäischen
Kunst vollzogen aber Paradoxa bleiben bestehen" (Ants Juske im Katalog
zur Ausstellung). Juske betont, dass die gelebte Erfahrung eines
historischen Post-Kommunismus jedoch das Beste ist, was der
osteuropäischen Kunst widerfahren kann und, was ebenso wichtig
ist, die Auseinandersetzung mit ihr die Kunst der westlichen
Wohlfahrtsgesellschaften stimuliert.
|
|
Ilmars Blumbergs/Viesturs Kairiss, "Riga's Magic Flute", 2001 |
Deimantas Narkevicius, "Energy Lithuania", 2000
|
ATG (Academic
Training Group) (LT) beschäftigen sich mit dem Thema
der (Selbst)-Repräsentation, einem der grundlegenden Motive
des "Post-Ost-Diskurses". Es geht um das Bild des/der "Anderen" und um
die fragwürdige Produktion nationaler Identitäten. In
einer Dia-Installation führen sie Image-Stereotypen
für die "Anderen" vor, stilisierte und zugleich aggressive
Multikulturalität. Mit "Welcome" (1997), einer
Fußmatte, die ein Text in verballhornter englischer Sprache
ziert, verweisen sie in der Pose der "Hinterwäldler" auf die
eigene exzentrische Situation.
Ilmars
Blumbergs/Viesturs Kairišs (LV) beide Film- und
Theaterregisseure, zeigten ihren Film "Magic Flute /
Zauberflöte" (2001) erstmalig auf der Biennale Venedig, 2001.
In spröden, beklemmenden Bildern zeigt der Film, wie in Riga
die Ärmsten bestattet werden, nicht auf einem Friedhof sondern
in einem Wald, in den die Toten in einem klapprigen Lieferwagen
gebracht werden. Der Film transformiert dann diese triste Situation in
ein berührendes Szenario voller Pathos, in dem neben
Bühnenversatzstücken der gesamte Chor der
Zauberflöten-Aufführung der Lettischen Nationaloper
in vollem, theatralischbizarrem Kostüm zwischen den
Grabhügeln Aufstellung nimmt. Für die Toten, die in
ihrem Leben nie mit der Oper in Berührung kommen konnten,
ertönt Mozarts Musik als Grabgesang.
Eriks Bozis
(LV) experimentiert mit den Möglichkeiten unterschiedlicher
Perspektiven und subjektiven und objektiven Wahrnehmungsformen im
öffentlichen Raum. So verkürzt oder
verlängert er in "Bench-Up, Bench-down" die Beine von
Parkbänken, ein Hindernis oder eine Erleichterung, je nach der
Größe der BenutzerInnen dieser Bänke.
(Parkanlage am Landhausplatz)
Die Videos von Kai Kaljo (EE) können mit dem
Begriff "Video-Poesie" umschrieben werden. In "A Loveletter to myself /
Ein Liebesbrief an mich" (1998) verwandelt sie ihr Atelier, ein
unspektakulärer Ort, in einen poetischen Raum, in dem die
Staffelei, die Fenster, Zigarettenrauch und Seifenblasen mit dem
hereinfallenden Sonnenlicht in ein reflektierendes, die Ebenen der
Realität verschiebendes Spiel zueinandertreten. In dem Video "A
Loser" (1997) nimmt sie wiederum ihr Atelier als Bühne, auf der
sie selbst auftritt, um ein ironisch-groteskes Bild von der Stellung
der Künstlerin in der Gesellschaft zu zeichnen, wobei Kaljo
hier die Techniken der Sitcom manipulativ einsetzt.
Ly Lestberg
(EE) thematisiert sexuelle Identitäten und zwar dann, wenn
biologische und zugleich soziale Normierungen mit der innerpsychischen
Interpretation im Konflikt stehen.
Es sind jene im Gender-Diskurs gestellten Fragen, auf die die
Künstlerin in der Fotoserie "Insomnia" (1999) aufmerksam macht.
Die Arbeit "What do you read, my Lord?" (1999/2000) erzählt eine
Geschichte ohne Ort und ohne Zeit, in der Prinzessinnen und Soldaten
auftreten, deren Geschlecht durch einfache Zeichen scheinbar
determiniert ist. Doch bei näherem Hinsehen geraten die
Identitäten ins Kippen.
Gintaras
Makarevicius (LT) untersucht das Verhältnis zwischen
Realität und Illusion, mit der Absicht, das Publikum in seine
aktionistische Dramaturgie mit hinein zu ziehen. For the Deconstruction
of Attention / Für die Zerstörung der Aufmerksamkeit
(1997) besteht aus einer Reihe von runden Spiegeln, die über
Bewegungsmelder in Drehung versetzt werden und dadurch die im
(Lacan'schen Sinn) spekulative Identität der BetrachterInnen
aufzulösen beginnen.
Deimantas
Narkevicius (LT) knüpft dort an die Tradition der
Avantgarde-Kultur an, wo sie auf alltägliche soziale Diskurse
stößt. Dabei geht es ihm um die Wahrnehmung von
Geschichte und deren Veränderung durch ideologische
Interpretationen. Sein Film "Energy Lithuania" (2000) erzählt in
gebrochen-melancholischen Bildern von der Elektrifizierung Litauens,
dem sozialistischen Projekt der Modernisierung in der Sowjetunion, von
dem Scheitern der Utopien und den gesellschaftlichen
Umbrüchen, durch die auch die einst privilegierten Russen nach
1989 zu einer diskriminierten Minderheit wurden. In dem 16 mm Film
"Europe 54o54'-25o19""(1997) beginnt die Kamerafahrt im Haus der
Künstler, durchquert die Stadt um jenseits der Peripherie im
freien Gelände auf einen Markierungspunkt zu stoßen,
die "Mitte" bzw. das geografische Zentrum Europas.
Laila Pakalnina (LV) verwendet in ihrem
Dokumentationsvideo "Papagena" (2001) ebenfalls die Musik aus der
Zauberflöte. Auf der Straße spielt sie PassantInnen,
alten Leuten, Kindern, Jugendlichen über Kopfhörer
Mozarts Papageno-Arie vor. Die Musik ist für die
BetrachterInnen des Videos nicht hörbar, sie spiegelt sich
jedoch im Gesichtsausdruck der Menschen, denen sie vorgespielt wird.
Marko Raat (EE) zeigt in dem Video "For
Aesthetic Reasons / Aus ästhetischen Gründen" (1999)
den jungen estischen Kunsthistoriker Andres Krug, der nach
Dänemark geht und sich –
auf Anregung des Regisseurs –
an eine Reihe von Institutionen wendet mit der Absicht, eine
Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten –
aus rein ästhetischen Gründen, wie er betont.
Arturas Raila
(LT) Das Video "Under the Flag / Unter der Fahne" (2000) besteht aus zwei
Teilen. Der erste entstand in Linz, Oktober 1999, während der
österreichischen Wahlen. Touristisches wird mit Politischem
konfrontiert, neben Museumsbesuchen und Straßenaufnahmen
stehen Bilder der politischen Propaganda und Aussagen von PassantInnen
zum Wahlausgang. Im zweiten Teil wird das in Österreich
entstandene Video den Führern der litauischen National
Worker's Union vorgespielt, wobei deren Reaktionen und Kommentare
gefilmt werden.
Eglé
Rakauskaité (EE)
beschäftigt sich mit dem gesellschaftlich und
religiös kodierten Körper. In einem Land mit starker
katholischer Tradition und großen sozialen Problemen werden
dessen Ausdrucksformen oftmals verworfen oder verdrängt und in
der mythisierten Form des überhöhten Leidens
repräsentiert. Rakauskaité arbeitet mit
körperbezogenen Materialien wie z.B. Schokolade. "Chocolate
Crucifixes" (1994 –
2000) ist eine Rauminstallation, bei der die Wände mit
hunderten Kruzifixen aus Schokolade ausgekleidet werden. Das
unorthodoxe Material und der süße Geruch
intensivieren den Eindruck der Vergänglichkeit.
Die Riga
Dating Agency (LV) ist ein Gemeinschaftsprojekt von Monika
Pormale und Gints Gabrans, in dem sie auf Interaktivität und
die gleichzeitige Simulation von Realität setzen. In
lettischen Tageszeitungen wurden Kontaktanzeigen geschaltet, worauf
Personen mit seriösen Absichten AusländerInnen
kennenlernen konnten. Die Zahl der erfolgreichen Kontakte und die
Verantwortlichkeit der Beteiligten offenbaren das lebendige Potential
und die Ernsthaftigkeit dieses Projektes als gelungenes Modell
für 'social art'.
Ene-Liis Semper
(EE) macht sich in ihren performativen Videoarbeiten selbst zur
Protagonistin. In ritualisierten, aktionistischen Abläufen
setzt sie ihren Körper Situationen aus, deren Ambivalenz darin
liegt, dass die hier stattfindende Aggression sowohl von
außen als auch von innen zu kommen scheint. In der
Installation "Licked Room / Geleckter Raum" (2001), einem sterilen,
völlig weißen, grell ausgeleuchteten, mit einem
Plastikbelag ausgekleideten Raum, ist die Künstlerin auf drei
Vidoemonitoren zu sehen, wie sie sich durch diesen Raum
"durcharbeitet", indem sie dessen Boden und Wände Zentimeter
für Zentimeter ableckt.
Oleg Tillbergs
(LV) machte für eine stillgelegte Fabrikshalle in Zagreb die
Installation "Formula X", die in Innsbruck nur als Fotodokumentation zu
sehen ist. Hinter einer halbtransparenten Begrenzung aus Plastik
platzierte er ein kroatisches Kriegsflugzeug, das von den Spuren des
einige Jahre zuvor stattgefundenen Krieges in Kroatien gezeichnet war.
Von Zeit zu Zeit hüllte Trockeneis dieses Objekt in einen
zusätzlichen, mystischen Nebel.
Jaan Toomik (EE) verbindet in dem Video "Father and
Son / Vater und Sohn" (1998) die Koppelung realistischer Bilder – ein Mann
läuft nackt auf einem See Schlittschuh – mit der
Umdeutung christlicher Inhalte. Der Vater (Toomik selbst)
repräsentiert das Reale, den ungeschützten,
verletzlichen Körper, der Sohn (Toomiks Sohn) ist nur als
unsichtbare Stimme präsent, vergleichbar dem lateinischen
Choral. Durch den einfachen semiotischen "Fehler" der Vertauschung
lässt Toomik die christliche Symbolik kippen.
Übernahme der
Ausstellung vom MSU / Museum
für Zeitgenössische Kunst, Zagreb (Muzej suvremene umjetnosti, Zagreb);
kuratiert von Tihomir Milovac u. Branka Stipancic.
|
|
Vortrag und Filmscreening
Hito
Steyerl, "Die leere Mitte"
Sa, 27. April 2002, 19 Uhr
Der Film "Die leere
Mitte" beobachtet über einen Zeitraum von acht Jahren die
architektonischen und politischen Veränderungen am Potsdamer
Platz in Berlin. Auf einem leeren Minenfeld zwischen den Grenzen des
Kalten Krieges entsteht zwischen 1990 und 1998 allmählich ein
Hauptquartier internationaler Konzerne. Jahrzehntelang liegt der Platz
brach: als leere Mitte Berlins. Jetzt kehrt die Mitte zurück.
Nach der Deutschen
Einheit siedelt sich das Zentrum politischer Gewalt wieder in Berlins
Mitte an. Zur selben Zeit werden Menschen an den Rand der Stadt
gedrängt. Sie werden durch die Zentralisierung von
Deutschlands wirtschaftlicher und politischer Macht marginalisiert.
1990 rufen Besetzer eine sozialistische Republik auf dem Todesstreifen
aus. Acht Jahre später stehen an derselben Stelle die neuen
Bürobauten des Daimler Benz Konzerns.
Mittels langer
Überblendungen werden die urbanen Umbrüche sichtbar
gemacht. An ihnen zeigen sich die Spuren globaler Umstrukturierungen,
aber auch das Fortwähren sozialer und politischer
Grenzziehungen. Die Geschichte des Platzes macht deutlich, dass es
immer auch der Ausgrenzung, besonders gegen Zuwanderer und Minderheiten
bedurft hat, um ein mächtiges Zentrum der Nation zu errichten.
Der Film bemüht sich im Gegenzug darum, denen eine Stimme und
eine Geschichte zu geben, die nach wie vor von dieser Mitte
ausgeschlossen bleiben.
"Es geht weniger darum,
Abgrenzungen als Grenzen zu überqueren, sondern eher um das
partielle Verschwinden, die Auflösung oder Verlagerung der
Abgrenzungen selbst. Es geht darum, dass die Grenzen sich
plötzlich verschieben, wenn du versucht, sie zu passieren...
Jetzt verstehst du, dass wir auch über die Zersplitterung von
Grenzen sprechen; ihren Teilabriss, ihre Neuverhandlung, Verlagerung;
über das Auftauchen neuer Grenzen, die quer durch die alten
verlaufen." (Stuart Hall)
HFF München,
1998, 62 min, 16mm, Buch/Regie/Schnitt: Hito Steyerl, Kamera: Meike
Birck, Boris Schafgans, Hito Steyerl
Hito Steyerl
ist Filmemacherin und Autorin, lebt in Berlin. Derzeit Gastprofessur
für Gender und Cultural Studies an der UDK Berlin.
|