Pierre Bourdieu
In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung
9. September – 16. Oktober 2005

 
 

Pierre Bourdieu, "In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung", Installationsansicht Galerie im Taxispalais, 2005. Foto Rainer Iglar

Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, wenn ihnen nur die Alternative zwischen Populismus oder im Gegenteil einer durch Klassenrassismus bedingten Scham für sich selbst bleibt. Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als Disziplin definiert.

Die Fotografie, die ich zunächst in Algerien und dann im Béarn praktiziert habe, hat als Begleiterin zweifellos viel zu dieser Konversion des Blicks beigetragen, die eine wahre – und ich glaube, das Wort ist nicht zu stark – Sinnesänderung voraussetzte. Denn die Fotografie ist eine Manifestation der Distanz des Beobachters, der seine Daten erfasst (...), aber zugleich setzt die Fotografie auch die ganze Nähe des Vertrauten, des Aufmerksamen und eine Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus, Details, die der Beobachter nur durch seine Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag (und sagt man nicht von jemandem, der sich gut benimmt, dass er „aufmerksam“ ist?), eine Sensibilität für das unendlich kleine Detail einer Handlung, das selbst dem aufmerksamsten Ethnologen zumeist entgeht. Die Fotografie ist aber auch verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe, und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem Blick begegnet bin, den ich – auch wenn ich befürchte, mich dadurch lächerlich zu machen – als liebevoll, oft auch gerührt bezeichnen möchte.

Pierre Bourdieu

 
 
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