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Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung
in der Galerie im Taxispalais, Innsbruck, 8. 9. 2005
Niemand stellt sich mehr die Frage, warum zum Beispiel Jean-Luc
Godard, Peter Greenaway oder Jasmila Žbanić, die als
Filmemacher betrachtet werden, sowohl im Kontext des Filmes
als auch im Bereich der bildenden Kunst eine Rolle spielen;
was ist es, das mehr als Film ist, was diese AutorInnen sowohl
als FilmemacherInnen als auch als Bildende oder VideokünstlerInnen
charakterisiert? Diese Fragen, die sich gewissermaßen
auf das Phänomen der „expanded media“, der
Ausdehnung der Medien, beziehen, wurden in der Kunsttheorie
und Museumspraxis der vergangenen dreißig bis vierzig
Jahren analysiert. Doch ist jeder Künstler, jede Künstlerin
ein Fall für sich, abhängig vom Feld seiner oder ihrer
Untersuchungen in Hinsicht auf Form und Inhalt.
In der Galerie im Taxispalais haben wir heute einen solchen
“Fall” in Form der Videos von Jasmila Žbanić.
Mein junger Kollege Nebojsa Jovanović sagt, dass die Antwort
zu der Frage, wieso die Filme von Jasmila Žbanić für
KuratorInnen so interessant sind, sehr einfach sei: “Weil
ihre Filme nicht mit einem durchschnittlichen Filmkonsumenten
rechnen. (...) Die Laufbahn der anderen jungen Regisseure aus
Sarajevo kann sehr einfach als ein ‘Kampf um den abendfüllenden
Film’ beschrieben werden. Praktisch all ihre Frühwerke
(ob Kurz- oder Dokumentarfilme) sind in erster Linie “Vorbereitungen”
auf “the real thing”, nämlich die Produktion
eines langen Spielfilmes (...). Mit den Filmen von Jasmila Žbanić
verhält es sich geradezu konträr: Alle ihre Kurz-
und Dokumentarfilme haben ein Eigenleben, sie setzt keine Mittel
ein, um zum ‘großen Ziel’ zu gelangen. ...
Während ihre Filmkollegen suchten, hat Jasmila Žbanić
gefunden. Jeder ihrer Filme ist ein solches “’Finden’”.
Jasmilas intellektuelles und schöpferisches Interesse
weist über den Film hinaus. Sie bewegt sich mit gleicher
Freiheit und Souveränität, wenn sie die Sprache des
Theaters erkundet. Sie sagt, dass sie in den Monaten, in denen
sie mit Peter Schumann und seinem Bread and Puppet Theatre
gearbeitet hat, mehr über das Theater gelernt hat als in
all den Jahren ihres Studiums an der Akademie für Szenische
Kunst in Sarajevo.
Wie man sieht, ist das Spektrum von Jasmilas Interessen, die
außergewöhnliche visuelle Kultur, die unkonventionellen
und nicht-traditonellen filmischen Methoden Grund genug, dass
ihre Arbeiten in einem größeren Rahmen als in den
Kinos vorgestellt werden. Deshalb ist Jasmila heute Abend hier.
Die Themen und Hauptdarsteller aller ihrer Filme, einschließlich
der drei für diese Präsentation ausgewählten
Arbeiten, konzentrieren sich ausschließlich auf Frauen,
auf die erneute Untersuchung von Beziehungen zwischen Frauenthemen
und der Erfahrung der Krieges, dem traumatischen Knoten, den
Jasmila beharrlich immer wieder aufsucht und, aus immer neuen
Sichtwinkeln, wieder und wieder befragt.
Lassen Sie mich etwas mehr über die drei Videos erzählen,
die Silvia Eiblmayr für diese Ausstellung ausgesucht hat.
Das erste ist After, After, das 1997 als studentische
Arbeit entstanden ist und im selben Jahr in der ersten Jahresausstellung
des neu gegründeten Soros Center for Contemporary Art (heute
Sarajevo Center for Contemporary Art), das ich nach wie vor
leite, zu sehen war. Diese Jahresausstellung mit dem Titel "Meeting
Point" bestand aus zwei Teilen. Der erste umfasste mehr
als dreißig ortsspezifische Projekte – Installationen
und Performances –, die im Verlauf des Sommers eines nach
dem anderen in den Überresten des Türkischen Bades,
des Hamam aus dem 16. Jahrhundert im Herzen des alten Sarajevo,
genannt Bascarsija, aufgebaut wurden.
Der andere Teil der Ausstellung bestand aus der ersten öffentlichen
Vorführung von Home Videos, die während der Belagerung
der Stadt und unmittelbar nach dem Krieg entstanden sind. Zwei
von Jasmilas Arbeiten befanden sich in dieser Auswahl: Autobiography,
ein rein introspektives Kunstvideo, das im Winter 1995/6 entstanden
ist, als das Friedensabkommen von Dayton unterzeichnet wurde.
Zu diesem Zeitpunkt wurde das Feuer auf Sarajevo eingestellt
und Jasmila erkannte, dass sie den Krieg überlebt hatte;
so feierte sie in diesem Video rituell ihre Wiedergeburt. Die
andere Arbeit war das Dokumentarvideo After, After.
Die Autorin führt uns in die autistische Welt eines durch
den Krieg traumatisierten Mädchens, das beginnt, zur Schule
zu gehen und sich zu resozialisieren, während die Symptome
ihres Traumas offensichtlich bleiben. Wir werden uns ihrer in
voller Intensität und Bösartigkeit bewusst, wenn wir
sie als Teil der kollektiven Erfahrung der Kinder erkennen,
deren Folgen wir in den gewalttätigen Spielen ihrer Schulkameraden
sehen. Ein kurzer Dialog ganz am Ende des Videos stellt für
mich das erschreckendste und schmerzlichste Bild eines Kriegstraumas
dar. Auf Jasmilas Frage: “Hast du irgendwelche Wünsche?
Was wünschst du dir?” bleibt das Mädchen für
einen Moment stumm und antwortet dann: “Nichts”.
Ich erwähnte die erste Ausstellung im Soros Center for
Contemporary Art aus zwei Gründen. Der erste ist das Entstehen
einer neuen Kunstszene nach dem Krieg und einer neuen KünstlerInnengeneration.
Dies war die Situation, als eine anonyme Studentin, Jasmila
Žbanić, erstmals in der Öffentlichkeit auftauchte,
so wie die meisten TeilnehmerInnen, die später Anerkennung
fanden und deren spätere Kunstproduktion und -distribution
kontinuierlich ermöglicht oder unterstützt wurde durch
das SCCA. In Bezug auf die Preise, die bei dieser Ausstellung
verliehen wurden, gibt es folgende Anekdote. Während der
Endauswahl für den ersten Preis konnten sich die Jurymitglieder
– Sanja Iveković, Kathy Rae Huffman and Mike Stubbs
– nicht entscheiden zwischen zwei Arbeiten: dem Kunstvideo
Autobiography und dem Dokumentarfilm After, After,
übersahen dabei aber, das die Urheberin beider Filme dieselbe
Person war. Als sie erkannten, dass es Jasmila war, wurde sie
ausgezeichnet nicht nur für ein, sondern für zwei
Videos.
Der zweite Grund ist verbunden mit einer wichtigen internationalen
Ausstellung namens “Zonen der Verstörung”,
die in Graz stattfand, direkt nach der erwähnten Ausstellung
“Meeting Point” 1997. “Zonen der Verstörung”
wurde von Silvia Eiblmayr kuratiert, die die Anfängerin
Jasmila Žbanić einlud, mit After, After teilzunehmen.
Dies war der erste Schritt, den Jasmila in der internationalen
Kunstszene machte.
In ihrem zweiten Film, Red Rubber Boots,
folgt Jasmila mit der Kamera einem Team forensischer Experten,
die auf der Suche nach Überresten von Kriegsopfern Massengräber
exhumieren. Die Kamera ist auf eine junge Frau gerichtet, die
Mutter zweier vermisster Kinder. Die Vorgehensweise ist dieselbe
wie in dem vorangegangenen After, After, als die Kamera
das traumatisierte Mädchen findet und ihr zu folgen beginnt.
In diesem Fall sucht die Frau nach einem Paar roter Gummistiefel,
die der einzige Gegenstand ihres Kindes sind, den sie in den
menschlichen Überresten erkennen könnte. Anders als
andere FilmemacherInnen, die weniger erfahren oder weniger feinfühlig
im Umgang mit diesem schrecklichen Thema sind, ist Jasmila weit
entfernt von jeglicher “pornografischen” Faszination
an menschlichen Gebeinen in ihren Aufnahmen.
Red Rubber Boots – meiner Ansicht nach jener
Film in Jasmilas Werk, der in Hinblick auf Dramaturgie, Regie
und Schnitt am ehesten dem Genre Film entspricht, entsteht aber
dennoch wieder in einer eher “konzeptuellen” als
filmgerechten Weise, im Vergleich zu anderen Filmen, die sie
gedreht hat. Es gibt kein im Vorhinein festgelegtes Drehbuch.
Es gibt eine Idee, ein Thema, ein Problem, das sie persönlich
sehr beschäftigt. Was sich daraus für eine Geschichte
entwickelt, weiß sie, wie sie sagt, im Unterbewusstsein;
erst im Laufe der Dreharbeiten findet sich eine Form dafür,
wobei die endgültige Struktur des Filmes dann im Schnittraum
gestaltet wird.
Images From the Corner ist Teil einer
Filmtrilogie, die vom ZDF produziert und von Zoran Solomun,
ein Regisseur von experimentellen und brillanten Dokumentarfilmen,
der Belgrad 1991 verließ und seitdem in Berlin lebt, beaufsichtigt
wurde. Diese Anthologie ist das Statement einer Generation,
zusammengestellt aus drei Geschichten von drei jungen FilmregisseurInnen
(Sarajevo, Belgrad und Skopje), die nach den Kriegen im ehemaligen
Jugoslawien in Erscheinung traten.
Mit Images From the Corner versuchte Jasmila zum ersten
Mal das Trauma ihrer eigenen Erfahrung zum Ausdruck zu bringen.
Im Mittelpunkt des Films steht die Suche nach in-situ-Informationen
über eine Mädchen aus ihrer Nachbarschaft, das Jasmila
kannte und das verwundet wurde. Dies war Jasmilas erste Kriegserfahrung
und die erste direkte Begegnung mit Tod und Zerstörung,
mit ihrer eigenen Sterblichkeit.
Es gibt einen Moment im Film, der Jasmilas besondere Autorenschaft
(Handschrift) und ihren Mut als Regisseurin nochmals bestätigt.
In einer Aufnahme setzt Jasmila eine fixe Kamera ein, um einen
Abschnitt des leeren Gehsteiges zu filmen, wo an diesem blutigen
Tag im Jahre 1992 ihre Freundin Biljana lag, verwundet durch
eine tödliche Granate. Die Dauer dieser statischen Aufnahme,
während der im Off das Klicken der Fotokamera zu hören
ist, ist bestimmt durch die Zeit, die man benötigt, drei
Filmrollen aufzubrauchen. Das ist, ironisch gesprochen, Jasmilas
Hommage an den berühmten französischen Fotoreporter,
der zufällig vor Ort war und, anstatt dem verwundeten Mädchen
zu helfen, sich dafür entschied, sehr professionell die
blutige Szene zu fotografieren, wofür er drei Filme benötigte.
So eine lange statische, scheinbar leere aber extrem spannungsgeladene
Aufnahme ist etwas, das sich einzig ein “echter”
– um wieder ironisch zu sein – Filmregisseur erlauben
würde.
Die Erfahrung eines kriegsbedingten Traumas von Frauen ist
nach wie vor das zentrale Motiv in Jasmilas Werk. In ihrem gerade
fertig gestellten abendfüllenden Film Grbavica
versuchen die beiden Hauptfiguren mit dem Vermächtnis des
Krieges fertig zu werden; eine Mutter versucht ihr Vergewaltigungstrauma
hinter sich zu lassen, während ihre Tochter der Wahrheit
ins Gesicht sehen muss, dass sie das Ergebnis eben dieser Vergewaltigung
ist.
Vom ersten Augenblick an, noch als Gymnasiastin, erfuhr Jasmila
von dem Verbrechen geplanter und organisierter Vergewaltigungen
von bosnischen Frauen im letzten Krieg, sie war von diesem Thema
besessen. Diesen Film, den sie seit Jahren in ihrer Vorstellung
mit sich trägt, wagte sie nicht zu drehen, bevor sie selbst
Mutter wurde. Ihren ersten langen abendfüllenden Film zu
drehen ist lediglich die Fortsetzung, nicht der Höhepunkt
ihres Werkes als Filmemacherin, was sie von ihren anfangs erwähnten
männlichen Kollegen unterscheidet. Ich stimme denen zu,
die Jasmila Žbanić nicht nur als die produktivste,
sondern auch als die wichtigste Regisseurin in der Geschichte
des bosnischen Kinos betrachten.
Dunja Blažević ist Direktorin des
Sarajevo Center of Contemporary Art.
© Dunja Blažević und Galerie
im Taxispalais
Übersetzung aus dem Englischen von Astrid Wege |