Dunja Blažević
Jasmila Žbanić Films:
After, After
, 1997, Red Rubber Boots, 2000, Images From the Corner, 2003
 
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Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung in der Galerie im Taxispalais, Innsbruck, 8. 9. 2005

Niemand stellt sich mehr die Frage, warum zum Beispiel Jean-Luc Godard, Peter Greenaway oder Jasmila Žbanić, die als Filmemacher betrachtet werden, sowohl im Kontext des Filmes als auch im Bereich der bildenden Kunst eine Rolle spielen; was ist es, das mehr als Film ist, was diese AutorInnen sowohl als FilmemacherInnen als auch als Bildende oder VideokünstlerInnen charakterisiert? Diese Fragen, die sich gewissermaßen auf das Phänomen der „expanded media“, der Ausdehnung der Medien, beziehen, wurden in der Kunsttheorie und Museumspraxis der vergangenen dreißig bis vierzig Jahren analysiert. Doch ist jeder Künstler, jede Künstlerin ein Fall für sich, abhängig vom Feld seiner oder ihrer Untersuchungen in Hinsicht auf Form und Inhalt.

In der Galerie im Taxispalais haben wir heute einen solchen “Fall” in Form der Videos von Jasmila Žbanić. Mein junger Kollege Nebojsa Jovanović sagt, dass die Antwort zu der Frage, wieso die Filme von Jasmila Žbanić für KuratorInnen so interessant sind, sehr einfach sei: “Weil ihre Filme nicht mit einem durchschnittlichen Filmkonsumenten rechnen. (...) Die Laufbahn der anderen jungen Regisseure aus Sarajevo kann sehr einfach als ein ‘Kampf um den abendfüllenden Film’ beschrieben werden. Praktisch all ihre Frühwerke (ob Kurz- oder Dokumentarfilme) sind in erster Linie “Vorbereitungen” auf “the real thing”, nämlich die Produktion eines langen Spielfilmes (...). Mit den Filmen von Jasmila Žbanić verhält es sich geradezu konträr: Alle ihre Kurz- und Dokumentarfilme haben ein Eigenleben, sie setzt keine Mittel ein, um zum ‘großen Ziel’ zu gelangen. ... Während ihre Filmkollegen suchten, hat Jasmila Žbanić gefunden. Jeder ihrer Filme ist ein solches “’Finden’”.

Jasmilas intellektuelles und schöpferisches Interesse weist über den Film hinaus. Sie bewegt sich mit gleicher Freiheit und Souveränität, wenn sie die Sprache des Theaters erkundet. Sie sagt, dass sie in den Monaten, in denen sie mit Peter Schumann und seinem Bread and Puppet Theatre gearbeitet hat, mehr über das Theater gelernt hat als in all den Jahren ihres Studiums an der Akademie für Szenische Kunst in Sarajevo.

Wie man sieht, ist das Spektrum von Jasmilas Interessen, die außergewöhnliche visuelle Kultur, die unkonventionellen und nicht-traditonellen filmischen Methoden Grund genug, dass ihre Arbeiten in einem größeren Rahmen als in den Kinos vorgestellt werden. Deshalb ist Jasmila heute Abend hier.

Die Themen und Hauptdarsteller aller ihrer Filme, einschließlich der drei für diese Präsentation ausgewählten Arbeiten, konzentrieren sich ausschließlich auf Frauen, auf die erneute Untersuchung von Beziehungen zwischen Frauenthemen und der Erfahrung der Krieges, dem traumatischen Knoten, den Jasmila beharrlich immer wieder aufsucht und, aus immer neuen Sichtwinkeln, wieder und wieder befragt.

Lassen Sie mich etwas mehr über die drei Videos erzählen, die Silvia Eiblmayr für diese Ausstellung ausgesucht hat. Das erste ist After, After, das 1997 als studentische Arbeit entstanden ist und im selben Jahr in der ersten Jahresausstellung des neu gegründeten Soros Center for Contemporary Art (heute Sarajevo Center for Contemporary Art), das ich nach wie vor leite, zu sehen war. Diese Jahresausstellung mit dem Titel "Meeting Point" bestand aus zwei Teilen. Der erste umfasste mehr als dreißig ortsspezifische Projekte – Installationen und Performances –, die im Verlauf des Sommers eines nach dem anderen in den Überresten des Türkischen Bades, des Hamam aus dem 16. Jahrhundert im Herzen des alten Sarajevo, genannt Bascarsija, aufgebaut wurden.

Der andere Teil der Ausstellung bestand aus der ersten öffentlichen Vorführung von Home Videos, die während der Belagerung der Stadt und unmittelbar nach dem Krieg entstanden sind. Zwei von Jasmilas Arbeiten befanden sich in dieser Auswahl: Autobiography, ein rein introspektives Kunstvideo, das im Winter 1995/6 entstanden ist, als das Friedensabkommen von Dayton unterzeichnet wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Feuer auf Sarajevo eingestellt und Jasmila erkannte, dass sie den Krieg überlebt hatte; so feierte sie in diesem Video rituell ihre Wiedergeburt. Die andere Arbeit war das Dokumentarvideo After, After. Die Autorin führt uns in die autistische Welt eines durch den Krieg traumatisierten Mädchens, das beginnt, zur Schule zu gehen und sich zu resozialisieren, während die Symptome ihres Traumas offensichtlich bleiben. Wir werden uns ihrer in voller Intensität und Bösartigkeit bewusst, wenn wir sie als Teil der kollektiven Erfahrung der Kinder erkennen, deren Folgen wir in den gewalttätigen Spielen ihrer Schulkameraden sehen. Ein kurzer Dialog ganz am Ende des Videos stellt für mich das erschreckendste und schmerzlichste Bild eines Kriegstraumas dar. Auf Jasmilas Frage: “Hast du irgendwelche Wünsche? Was wünschst du dir?” bleibt das Mädchen für einen Moment stumm und antwortet dann: “Nichts”.

Ich erwähnte die erste Ausstellung im Soros Center for Contemporary Art aus zwei Gründen. Der erste ist das Entstehen einer neuen Kunstszene nach dem Krieg und einer neuen KünstlerInnengeneration. Dies war die Situation, als eine anonyme Studentin, Jasmila Žbanić, erstmals in der Öffentlichkeit auftauchte, so wie die meisten TeilnehmerInnen, die später Anerkennung fanden und deren spätere Kunstproduktion und -distribution kontinuierlich ermöglicht oder unterstützt wurde durch das SCCA. In Bezug auf die Preise, die bei dieser Ausstellung verliehen wurden, gibt es folgende Anekdote. Während der Endauswahl für den ersten Preis konnten sich die Jurymitglieder – Sanja Iveković, Kathy Rae Huffman and Mike Stubbs – nicht entscheiden zwischen zwei Arbeiten: dem Kunstvideo Autobiography und dem Dokumentarfilm After, After, übersahen dabei aber, das die Urheberin beider Filme dieselbe Person war. Als sie erkannten, dass es Jasmila war, wurde sie ausgezeichnet nicht nur für ein, sondern für zwei Videos.

Der zweite Grund ist verbunden mit einer wichtigen internationalen Ausstellung namens “Zonen der Verstörung”, die in Graz stattfand, direkt nach der erwähnten Ausstellung “Meeting Point” 1997. “Zonen der Verstörung” wurde von Silvia Eiblmayr kuratiert, die die Anfängerin Jasmila Žbanić einlud, mit After, After teilzunehmen. Dies war der erste Schritt, den Jasmila in der internationalen Kunstszene machte.

In ihrem zweiten Film, Red Rubber Boots, folgt Jasmila mit der Kamera einem Team forensischer Experten, die auf der Suche nach Überresten von Kriegsopfern Massengräber exhumieren. Die Kamera ist auf eine junge Frau gerichtet, die Mutter zweier vermisster Kinder. Die Vorgehensweise ist dieselbe wie in dem vorangegangenen After, After, als die Kamera das traumatisierte Mädchen findet und ihr zu folgen beginnt. In diesem Fall sucht die Frau nach einem Paar roter Gummistiefel, die der einzige Gegenstand ihres Kindes sind, den sie in den menschlichen Überresten erkennen könnte. Anders als andere FilmemacherInnen, die weniger erfahren oder weniger feinfühlig im Umgang mit diesem schrecklichen Thema sind, ist Jasmila weit entfernt von jeglicher “pornografischen” Faszination an menschlichen Gebeinen in ihren Aufnahmen.

Red Rubber Boots – meiner Ansicht nach jener Film in Jasmilas Werk, der in Hinblick auf Dramaturgie, Regie und Schnitt am ehesten dem Genre Film entspricht, entsteht aber dennoch wieder in einer eher “konzeptuellen” als filmgerechten Weise, im Vergleich zu anderen Filmen, die sie gedreht hat. Es gibt kein im Vorhinein festgelegtes Drehbuch. Es gibt eine Idee, ein Thema, ein Problem, das sie persönlich sehr beschäftigt. Was sich daraus für eine Geschichte entwickelt, weiß sie, wie sie sagt, im Unterbewusstsein; erst im Laufe der Dreharbeiten findet sich eine Form dafür, wobei die endgültige Struktur des Filmes dann im Schnittraum gestaltet wird.

Images From the Corner ist Teil einer Filmtrilogie, die vom ZDF produziert und von Zoran Solomun, ein Regisseur von experimentellen und brillanten Dokumentarfilmen, der Belgrad 1991 verließ und seitdem in Berlin lebt, beaufsichtigt wurde. Diese Anthologie ist das Statement einer Generation, zusammengestellt aus drei Geschichten von drei jungen FilmregisseurInnen (Sarajevo, Belgrad und Skopje), die nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien in Erscheinung traten.

Mit Images From the Corner versuchte Jasmila zum ersten Mal das Trauma ihrer eigenen Erfahrung zum Ausdruck zu bringen. Im Mittelpunkt des Films steht die Suche nach in-situ-Informationen über eine Mädchen aus ihrer Nachbarschaft, das Jasmila kannte und das verwundet wurde. Dies war Jasmilas erste Kriegserfahrung und die erste direkte Begegnung mit Tod und Zerstörung, mit ihrer eigenen Sterblichkeit.

Es gibt einen Moment im Film, der Jasmilas besondere Autorenschaft (Handschrift) und ihren Mut als Regisseurin nochmals bestätigt. In einer Aufnahme setzt Jasmila eine fixe Kamera ein, um einen Abschnitt des leeren Gehsteiges zu filmen, wo an diesem blutigen Tag im Jahre 1992 ihre Freundin Biljana lag, verwundet durch eine tödliche Granate. Die Dauer dieser statischen Aufnahme, während der im Off das Klicken der Fotokamera zu hören ist, ist bestimmt durch die Zeit, die man benötigt, drei Filmrollen aufzubrauchen. Das ist, ironisch gesprochen, Jasmilas Hommage an den berühmten französischen Fotoreporter, der zufällig vor Ort war und, anstatt dem verwundeten Mädchen zu helfen, sich dafür entschied, sehr professionell die blutige Szene zu fotografieren, wofür er drei Filme benötigte. So eine lange statische, scheinbar leere aber extrem spannungsgeladene Aufnahme ist etwas, das sich einzig ein “echter” – um wieder ironisch zu sein – Filmregisseur erlauben würde.

Die Erfahrung eines kriegsbedingten Traumas von Frauen ist nach wie vor das zentrale Motiv in Jasmilas Werk. In ihrem gerade fertig gestellten abendfüllenden Film Grbavica versuchen die beiden Hauptfiguren mit dem Vermächtnis des Krieges fertig zu werden; eine Mutter versucht ihr Vergewaltigungstrauma hinter sich zu lassen, während ihre Tochter der Wahrheit ins Gesicht sehen muss, dass sie das Ergebnis eben dieser Vergewaltigung ist.

Vom ersten Augenblick an, noch als Gymnasiastin, erfuhr Jasmila von dem Verbrechen geplanter und organisierter Vergewaltigungen von bosnischen Frauen im letzten Krieg, sie war von diesem Thema besessen. Diesen Film, den sie seit Jahren in ihrer Vorstellung mit sich trägt, wagte sie nicht zu drehen, bevor sie selbst Mutter wurde. Ihren ersten langen abendfüllenden Film zu drehen ist lediglich die Fortsetzung, nicht der Höhepunkt ihres Werkes als Filmemacherin, was sie von ihren anfangs erwähnten männlichen Kollegen unterscheidet. Ich stimme denen zu, die Jasmila Žbanić nicht nur als die produktivste, sondern auch als die wichtigste Regisseurin in der Geschichte des bosnischen Kinos betrachten.

Dunja Blažević ist Direktorin des Sarajevo Center of Contemporary Art.

© Dunja Blažević und Galerie im Taxispalais
Übersetzung aus dem Englischen von Astrid Wege

 
 
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Öffnungszeiten: Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr LeseRAUM: Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr
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