Vergangenes Begehren
In einer Zeit der beschleunigten Geschichte in Folge von gravierenden soziokulturellen Veränderungen, politischem Wandel oder auch technologischer Evolution wird die Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit zur Basis einer fragilen Identität. Dabei stellt sich die Frage nach dem Unbewussten der Geschichte: Wie prägt das Psychische unsere historischen Erzählungen und das kollektive ebenso wie individuelle Gedächtnis?
Von dieser Frage ausgehend zeigt die Ausstellung VERGANGENES BEGEHREN zehn internationale Künstlerinnen und Künstler, deren Zugangsweisen sich von dokumentarischen und historiografischen Prinzipien deutlich unterscheiden, indem sie die persönliche Bedeutsamkeit von Geschichte ins Zentrum stellen. Der Wunsch nach Identität und Selbstreflexion, der immer auch ein Wunsch nach Erinnerung und Geschichte ist, markiert dabei einen wichtigen Dreh- und Angelpunkt, weil er das Unbewusste mit dem Bewussten und das Individuelle mit dem Kollektiven verbindet.
Die Doppeldeutigkeit des Ausstellungstitels VERGANGENES BEGEHREN bezieht sich zum einen auf das für die gegenwärtige Gesellschaft so prägende Verlangen nach kollektiven historischen Erzählungen wie auch persönlicher, subjektiver Erinnerung. Zum anderen zielt der Titel auf die Verstrickung des Einzelnen in die Geschichte, die in Bauwerken, Fotografien, Archiven, Denkmälern und Monumenten, aber auch in Gedenk- und Erinnerungsritualen festgeschrieben ist.
Entsprechend kreisen die in der Ausstellung gezeigten Werke um drei zentrale Themenfelder: um Architektur- und Gedächtnislandschaften, die als Träger und Vermittler von Geschichte auftreten und zugleich Ausdrucksformen der Psyche vergangener Generationen sind; um die Gedächtnismedien Fotografie und Film sowie um traumatische Geschichtsmomente, die in unterschiedlichen Formen immer wieder in das Gegenwartsbewusstsein vordringen. Die spezifischen Perspektiven der Künstlerinnen und Künstler, die in der Ausstellung fotografisch, filmisch, zeichnerisch ebenso wie skulptural und räumlich-szenografisch umgesetzt sind, ermöglichen dabei einen kulturell differenzierten Blick auf die Psychologie von Geschichte und Erinnerung.
Yael Bartana (*1970 in Kfar Yehezkel, lebt und arbeitet in Tel Aviv und Amsterdam) setzt sich in ihren Filmen mit dem politischen Alltag ihres Heimatlandes und dessen kultureller, religiöser und nationaler Identität auseinander. Das Video Trembling Time (2001) dokumentiert eine spezielle Phase des jährlich in Israel auf staatliche Verordnung hin stattfindenden Gedenktags, an dem an die für die Nation gefallenen Soldaten erinnert wird. Von einer Brücke über einer vierspurigen Hauptstraße in Tel Aviv fokussiert Bartana jenen Moment, in dem alle Sirenen des Landes ertönen und der Alltagsverkehr zum Stillstand gebracht wird. Es entsteht ein mythischer Zeitraum der Erinnerung, der jedoch wie eine unentrinnbare, kafkaeske Verordnung erscheint.
Mit ihrer Raum-Film-Installation 8 (2007) entwirft Ulla von Brandenburg (*1974 in Karlsruhe, lebt und arbeitet in Paris und Hamburg) eine Art mentalen Raum, der die Verkettung des Psychischen mit dem Historischen beschreibt. Der Betrachter gelangt durch eine labyrinthartige Architektur aus farbigen Stoffbahnen zur Projektion eines 16mm-Films. Im Film navigiert die Kamera wie auf einer traumhaften, surrealen Zeitreise langsam durch die Zimmerfluchten eines barocken Schlosses, vorbei an Tableaux Vivants, die symbolhaft ein historisch entwickeltes Unbewusstes repräsentieren.
Chen Chieh-Jen (*1960 in Toayuan, lebt und arbeitet in Taipeh) beschäftigt sich mit historischen Fotografien gesellschaftlich begründeter Gewalttaten und untersucht die Psychologie der Täter und Opfer sowie die Nachwirkungen der Fotografien selbst. In seiner Videoinstallation Lingchi – Echoes of a Historical Photograph (2002) bezieht sich Chen auf die historische Fotografie eines vormodernen, chinesischen Exekutionsrituals, das 1905 von einem französischen Kolonialsoldaten festgehalten wurde. Konfrontiert mit der von der Fotografie fixierten Tortur und der kulturellen Zuschreibung einer besonderen Grausamkeit, ruft Chen in Form eines filmischen Reenactments die unmittelbare Situation noch einmal wach, um das Ritual durch ein direktes Zur-Sprache-Bringen aufzuarbeiten.
Martin Gostner (*1957 in Innsbruck, lebt und arbeitet in Innsbruck und Düsseldorf) bezieht sich in seinen Werken auf traumatische geschichtliche Ereignisse, die sich durch die mediale Vermittlung in das Gedächtnis der globalen Gesellschaft eingeprägt haben. In der Watteinstallation Bamiyan Apparat (2007) ruft er das verstörende Bild der leeren Höhlen wach, die als Reste der zerstörerischen Tat blieben, mit der fundamentalistische Taliban im Jahr 2001 die jahrhundertealten Buddha-Statuen von Bamiyan (Afghanistan) aus ihren Felsnischen gesprengt hatten. A Thick Aura over Dealey Plaza (2007) befasst sich mit dem Ort, an dem US-Präsident John F. Kennedy 1963 erschossen wurde. Das Objekt besteht aus einem Modell der Dealey Plaza, das mit einer teils bis ins Schwarze angebrannten Panierhaut überzogen ist und die historische Aura des Ortes zu fassen versucht.
Franz Kapfer (*1971 in Fürstenfeld, lebt und arbeitet in Wien) untersucht in seinen Performances, seinen zeichnerischen, skulpturalen und fotografischen Werken ausgewählte Gedächtnisorte, analysiert deren Formen- und Symbolsprache und gibt dadurch einen Einblick in ideologische ebenso wie psychische Denkmuster. In seiner Zeichnungsserie Hôtel des Invalides (2011) und seinen drei frühen Performances St. Sebastian Friedhof, Kapitelplatz und Elisabeth (jeweils 1991) analysiert er verschiedene Aspekte der Mentalität des französischen und österreichischen Barock. Signifikant ist dabei immer auch die Offenlegung der persönlichen Faktoren, die er als Künstler in die Untersuchung mit einbringt.
In Anne-Mie Van Kerckhovens (*1951 in Antwerpen, lebt und arbeitet in Antwerpen und Berlin) autobiografischen Zeichnungen spielt die Reaktion auf die unmittelbare Umgebung, auf die Räume, in denen sie sich aufhält, und den Erlebnisstrom, mit dem sie sich konfrontiert sieht, eine zentrale Rolle. Die tagebuchartige, automatische Zeichnung fungiert bei Kerckhoven als idiosynkratisches Aufschreibesystem, in dem sie ihr individuelles Erleben, aber ebenso politische und gesellschaftliche Themen sowie Erinnerungen und Symptome des Unbewussten verarbeitet. Die drei Serien kleinformatiger, detailreicher Zeichnungen Schöneberger Ufer (2008), Systems of Status (2006/2007) und Une Légende Dorée (2008) sind eine Auswahl einer über die Jahre erarbeiteten Chronik von Erzählungen, an denen das Ineinanderfließen von gesellschaftlichen Einflüssen und individueller Persönlichkeit exemplarisch sichtbar wird.
David Maljković (*1973 in Rijeka, lebt und arbeitet in Zagreb) beschäftigt sich in seinen Installationen, Filmen und Collagen mit den Kontinuitäten und Brüchen des jugoslawischen sozialistischen Projektes und den daraus entstandenen Bildern und Symbolen, die als Geschichtsrelikte heute teilweise noch eine überzeitliche Wirkmacht ausüben, im Allgemeinen aber ihre Bestimmung verloren haben. In der Filmarbeit Retired Form (2008) nimmt er in den Blick, wie sich die historische Formensprache eines aus den 1950er Jahren stammenden, modernistischen Denkmals gegen ein unmittelbares Verstehen sperrt. In der Installation After the Fair (2009) thematisiert Maljković die Lücke, die zwischen dem sozial-utopischen Denken Ex-Jugoslawiens um die 1950er Jahre und der gesellschaftlichen Prekarität durch die Umstellung auf das kapitalistische Wirtschaftssystem in den 1990ern Jahren klafft.
Rosell Meseguer (*1976 in Orihuela/Cartagena, lebt und arbeitet in Madrid) widmet sich in OVNI Archive (UFO Archiv, 2007-2010) dem Thema der Spionage und der damit verbundenen Informationspolitik während der beiden Weltkriege und des Kalten Krieges bis heute. Das Archiv besteht aus einer von Meseguer erstellten Sammlung von Fotografien, Zeitungsausschnitten, Büchern und ähnlichen Materialien, die wie Indizien in eine abgründige politische Gedankenwelt führen. Das Archiv erinnert mit seinen verzweigten Gruppierungen und Vernetzungen an Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas, wobei Meseguer den rätselhaften Spuren des geheimdienstlichen Untergrunds wie eine Psychohistorikerin folgt.
In Miscegenated Family Album (1980/1994), einer 16-teiligen Serie von Foto-Diptychen, thematisiert Lorraine O’Grady (*1934 in Boston, lebt und arbeitet in New York) ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer älteren Schwester, indem sie Bilder aus ihrer persönlichen Familiengeschichte Aufnahmen von altägyptischen Nofretete-Darstellungen mit einer ähnlichen Schwesternthematik gegenüber stellt. Die Auswahl ist auf frappierenden formalen und ästhetischen Analogien zwischen den antiken und zeitgenössischen Porträts aufgebaut. Das selbst entworfene Familienalbum, die „Verwebung“ der eigenen Herkunft mit einer anderen Kultur und Identität ist dabei für O’Grady auch Ausdruck der eigenen hybriden Identität.
Margaret Salmon (*1975 in New York, lebt und arbeitet in Kent, London und New York) beschäftigt sich in ihrem filmischen Werk mit dem Genre des Porträts und untersucht das menschliche Alltagsleben in seinen unterschiedlichen Facetten. Ihre 2-Kanal-Videoinstallation Everything that rises must converge (2010) basiert auf zwei auf DVD übertragenen Filmen, die sie mit zwei unterschiedlichen Sorten 16mm-Filmmaterial ausführte, um ein subtiles Doppelporträt ihrer beiden jungen Töchter zu schaffen. Die beiden Filme sprechen von einer zutiefst menschlichen Sehnsucht nach dem Vergangenen und den persönlichen Motiven und Biografien, die an Erinnerung geknüpft sein können.
Eröffnung
Eröffnung: 14. Oktober 2011, 19 Uhr
Zur Eröffnung sprechen
Dr. Benedikt Erhard, Abteilung Kultur im Amt der Tiroler Landesregierung
Dr. Beate Ermacora, Direktorin, Galerie im Taxispalais
Dr. Jürgen Tabor, Kurator der Ausstellung, Galerie im Taxispalais
Publikation
Hg. Beate Ermacora, Jürgen Tabor
Mit Texten (dt. engl.) von Julia Brennacher, Lotte Dinse, Beate Ermacora, Christina Nägele, Jürgen Tabor und Moshe Zuckermann