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Kateřina Šedá
24. November 2007 – 20. Jänner 2008

 
 
Raum 4
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Katerina Seda Katerina Seda

Kateřina Šedá, Každej pes, jiná ves, 2007, Installation Galerie im Taxispalais. Foto: Rainer Iglar. Courtesy Franco Soffiantino Arte Contemporanea, Turin

Kateřina Šedá, Každej pes, jiná ves – Hemden, 2007, Installation Galerie im Taxispalais. Foto: Rainer Iglar. Courtesy Franco Soffiantino Arte Contemporanea, Turin
 
Každej pes, jiná ves, 2007
wörtlich: „Jedem Hund ein anderes Dorf“


NOVÀ LÍŠEŃ
„Ich bin aus Líšeň“, antworte ich jedem, der mich fragt, woher ich komme. Aber ich sage nie dazu, dass Líšeň ein Stadtteil am Rand der Großstadt Brno (Brünn) ist und diejenigen, die danach fragen, lasse ich in dem Glauben, es handle sich um ein abgelegenes Dorf. Wenn Sie jedoch jemanden aus unserer Siedlung Nová Líšeň fragen, woher er oder sie ist, bekennt sich die Mehrheit nicht zur eigenen Siedlung und sagt lieber: „Ich bin aus Brno.“ Als ob die Siedlung überhaupt nicht existieren würde, als sei sie verwunschen. Nie treffen Sie einen Touristen – was sollte der hier schon suchen.

KOMMEN SIE DOCH BITTE HEREIN!
Während im ursprünglichen Teil von Líšeň noch immer die dörflichen Regeln gelten (wir kennen einander hier, wir haben einen lokalen Heimatverein, feiern Feste zusammen,...), kann man Nová Líšeň eher mit dem Begriff „Haltestelle“ charakterisieren: Die Mehrheit der Bewohner „hält“ hier für die Nacht an und den Rest des Tages verbringt sie in der Stadt Brno.

Noch aus der Kindheit ist mir eine besondere Begebenheit mit einer Mitschülerin in Erinnerung geblieben, die ich von der Schule nach Hause begleitete. Wir gingen die Klajdovská-Straße den Hügel hinauf, und als die niedrigen Häuser von den ersten Plattenbauten abgelöst wurden, antwortete keiner der Passanten mehr auf meinen Gruß.
Es war, als wäre ich in der Siedlung ganz plötzlich unsichtbar geworden. Meine Freundin wandte sich mir verständnislos zu und sagte: „Hier musst Du niemanden mehr grüßen! – Nur die, die Du kennst!“ Ich verstand nicht wirklich, habe aber den Rat auf dem Rückweg befolgt: Ich habe so getan, als würde ich die Vorbeigehenden nicht sehen. Später habe ich von meinen Eltern erfahren, dass sich die Leute in der Siedlung nicht grüßen, weil sie einander nicht kennen. Jeder ist von woanders her in die Siedlung gezogen, und so haben die Bewohner nichts gemein. Dies klang logisch und ich habe mich nicht weiter damit beschäftigt.

JEDEM HUND EIN ANDERES DORF
Letztes Jahr im Frühling bemerkte ich jedoch, dass sich die Siedlung bedeutend verändert hatte. Das graue Einerlei war buchstäblich unter neuen, farbenfrohen Verputzen in die Brüche gegangen und Nová Líšeň erstrahlte wie eine Attraktion. Das war das Ergebnis einer „Erneuerung der Plattenbau-Siedlungen“, für die gleich mehrere Architekten zusammengearbeitet hatten. Keiner von ihnen hatte jedoch den Blick auf das große Ganze gerichtet, sondern jedes Haus wurde einzeln bearbeitet, so dass die Siedlung wie ein Musterbuch von Gebäuden erscheint, die alle verschieden sind. Das machte mir bewusst, dass gerade dies die Sache ist, die die Bewohner verbindet, die aber bisher unsichtbar geblieben ist: JEDER KOMMT VON WOANDERS HER! Als ich später in eine Siedlung auf der anderen Seite der Stadt kam, bot sich mir dasselbe Bild: Ich sah das GRUNDMUSTER der Wohnsiedlung.

DAS GRUNDMUSTER
Die farbliche Individualisierung der Häuser hatte jedoch keine Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen: Sie sahen und grüßten weiterhin nur die, die sie kannten. Ich machte es mir daher zur Aufgabe, einen Weg zu finden, das GRUNDMUSTER so sichtbar werden zu lassen, dass es die Be-wohner der Siedlung verbindet; ich wollte damit nicht nur diesen Ort, sondern auch die Beziehungen darin erneuern. Meine Überlegungen gingen von folgender Erkenntnis aus: Was wir gemeinsam haben, wird erst dann wirklich sichtbar, wenn wir es unter uns aufteilen. Wenn ich will, dass die Menschen auf der Basis des Grundmusters („jeder von woanders her“) zusammenkommen, muss ich dieses Gemeinsame gerecht unter ihnen aufteilen.

WIE KANN ICH ES ZEIGEN?
Ich entschied mich dazu, ein Bild der Siedlung zu schaffen: Ich erhielt die Entwürfe der Haupttypen der Gebäude und platzierte sie so nebeneinander, dass in mir die Vorstellung entstehen konnte, dass jedes Haus von einem anderen Ort kommt. Es kam mir dann der Gedanke, dass der einzige Weg zur gerechten Verteilung einer solchen Sache darin besteht, sie zu reproduzieren. Weil ich von Beginn an das GRUNDMUSTER als ein reales Bild betrachtet habe, entschied ich mich, es auf Stoff zu reproduzieren, und schickte meinen Entwurf an eine Textildruckerei. Als ich dann das reproduzierte Bild in meinen Händen hielt, wurde mir bewusst, dass, sollten die Leute verstehen, dass es sich um ein Muster handelt, sie es mitten unter sich sehen mussten. Und wie würden sie ein solches MUSTER bei ihnen selbst sehen können? Indem sie es tragen! Ich ließ also 1.000 Hemden aus dem bedruckten Stoff nähen, da gerade dieses Kleidungsstück am besten jenen „unsichtbaren Menschen“ verkörperte, der die Bewohner untereinander zu verbinden vermochte. 

VERSCHWINDE!
Schließlich hatte ich das GRUNDMUSTER in Händen. Aber das garantierte noch nicht, dass sich die Bewohner mit seiner Hilfe auch wirklich gegenseitig wahrnehmen würden. Ich ging von der Voraus-setzung aus, dass die Menschen die Aufteilung selbst übernehmen müssen, anders würde es sie nicht zusammenbringen. Und ich erkannte auch, dass das Grundmuster den Bewohnern der Siedlung nur unter einer Bedingung ermöglichen würde, sich gegenseitig wahrzunehmen – ICH DURFTE NICHT ZWISCHEN IHNEN STEHEN! Es war das erste Mal, dass ich nicht der sichtbare Mittelpunkt meines Projektes sein sollte. Diesmal hing der Höhepunkt des ganzen Projektes von meiner Unsichtbarkeit ab. Ich wusste, ICH MUSS VERSCHWINDEN!

TEILT ES UNTER EUCH AUF!
Um die Aktion geheim zu halten, durfte ich das Einwohnerverzeichnis nicht auf offiziellen Wegen anfordern. Daher ging ich mehrere Tage durch die Siedlung und schrieb Familiennamen von den Hausklingeln ab. Dann wählte ich 1.000 Familien aus der Liste aus und gruppierte sie zu Paaren. Dabei versuchte ich sicherzustellen, dass der Graben von  Líšeň zwischen jedem Paar lag, was garantierte, dass die Familien weit genug voneinander entfernt waren und sich daher wahrscheinlich nicht kannten.
Am 30. Mai 2007 schickte ich an all diese paarweise gruppierten Familien identische Pakete mit Hemden, die aus dem Stoff mit dem GRUNDMUSTER genäht waren, und als Absender führte ich jeweils die gegenüber wohnende Familie an. Dadurch hatte jedes Paar etwas gemeinsam und sie teilten es symbolisch unter sich auf. Dieser Zugang versprach die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme zwischen den Parteien.

Meine Person und mein Name verschwanden aus der ganzen Aktion, sie tauchten nirgendwo in der Siedlung auf und wurden bis zu dem Moment geheim gehalten, an dem all diese Familien eine Einladung in die Mährische Galerie in Brno erhielten, um das Muster ausgestellt zu sehen, das sie einen Monat zuvor auf dem Hemd bekommen hatten. Ein Monat war ausreichend Zeit, dass mein „mnemonisches Hilfsmittel“ „einsickern“ konnte.
Das Projekt ließ die Menschen miteinander in Kontakt treten und sie begannen darüber zu sprechen. Einige zogen das Hemd an und die anderen begannen mit ihnen deswegen zu reden. Der Zeitraum war lange genug, dass fast jeder darüber gesprochen hatte: Es entstand eine Art Mythos, der an einem Ort, wo fast 20.000 Menschen wohnen, fehlte. Zugleich dauerte es nicht so lange, dass die Neugier der Leute nachzulassen begann, so dass sie immer noch zur Ausstellung kamen.
Auf diese Weise wurde die Galerie ein Teil des Projekts. Dieses Mal war allerdings nicht wichtig, was gezeigt wird, sondern wer wen in der Galerie trifft. Alle 1.000 eingeladenen Familien konnten durch das Grundmuster das wichtigste Bild des ganzen Projektes sehen: EINANDER.

Kateřina Šedá, 2007


Am 2. August 2007 rief ich mit meinem bereits dritten Brief alle 1.000 Familien auf, ihre Geschichte aufzuschreiben, die sie mit dem Projekt verbinden, und sie an meine Adresse zu schicken. Die Reaktionen sind gemäß dem Sprichwort „Jedem Hund ein anderes Dorf“ wirklich sehr unterschiedlich und behandeln nicht nur die eigentliche Aktion. Viele Briefe sind sehr persönlich, die Leute bemühten sich sowohl die Situation in der Siedlung als auch ihr eigenes Leben zu beschreiben.
 
 
Galerie im Taxispalais Maria-Theresien-Str. 45 A-6020 Innsbruck
Öffnungszeiten: Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr LeseRAUM: Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr
T +43/512/508-3172, -3173 F 508-3175 taxis.galerie@tirol.gv.at